Wie außergewöhnlich solch ein Projekt Mitte der 60-er Jahre war, zeigen die Berichte der damaligen Lokalpresse. Die „Wiesbadener Stadtnachrichten“ schrieben in ihrer Ausgabe vom 23. August 1965: „Es sei bisher noch nicht dagewesen, dass eine Gesamtkirchengemeinde außerhalb der Pfarreien der Jugend noch ein Heim zur Verfügung stelle.“ In einem Artikel in der Evangelischen Sonntagszeitung von 1965 wird von einem „beachtlichen Zentrum evangelischer übergemeindlicher Arbeit“ gesprochen.
Ein Haus der offenen Tür, in dem sich Jugendliche aller Gemeinden und verschiedener Konfessionen und Religionen treffen, kreativ sind, Zugang zum christlichen Glauben und zu existentiellen Themen finden und gemeinsame Projekte planen, ist das Bonhoefferhaus bis heute. Es beherbergt das Evangelische Stadtjugendpfarramt, den Evangelischen Jugendring und den Gospelchor „Xang“ und bildet somit das regionale Zentrum der Evangelischen Jugendarbeit. Darüber hinaus ist der Wiesbadener Knabenchor im Bonhoefferhaus beheimatet.
Am Samstag (12. September) hat das Stadtjugendpfarramt in der Fritz-Kalle-Straße mit zahlreichen Freunden, Wegbegleitern, Ehemaligen und Gästen das Jubiläum ausgelassen gefeiert. Ein Theaterstück über den Namensgeber Dietrich Bonhoeffer mit einer anschließenden Podiumsdiskussion zeigte, wie aktuell die Texte und Gedanken Bonhoeffers – im Angesicht der derzeitigen Flüchtlingskrise – heute noch sind. Musikalisch wurde der Festtag unter anderem vom Wiesbadener Knabenchor sowie Fritzi Panitz und der Sängerin Louisa Wenderoth gestaltet.
Zu den zahlreichen Gratulanten gehörten neben Dekan Dr. Martin Mencke, Propst Oliver Albrecht und dem Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich unter anderem auch Vertreter der katholischen Jugendkirche Kana, des Evangelischen Jugendrings, des Stadtjugendrings und des Zentrums Bildung der Landeskirche.
Besondere Überraschung am Festtag: Zum Dank und zur Anerkennung für fünf Jahrzehnte evangelische Jugendarbeit überreichte der Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich Jugendpfarrerin Astrid Stephan – stellvertretend für das gesamte Team – die Stadtplakette der Landeshauptstadt Wiesbaden in Bronze.
Er dankte allen Mitarbeitenden, Ehrenamtlichen und Jugendlichen im Bonhoefferhaus für ihr großes Engagement: „Sie alle leisten hier Unglaubliches“, erklärte Gerich. Er betonte, dass es etwas Besonders sei, dass im Stadtjugendpfarramt jedem Jugendlichen die Tür offen stehe – ganz gleich welcher Konfession, Religion und Herkunft. „Junge Menschen sollen hier lebensbejahend gefördert und unterstützt werden. Sie lernen hier soziales Engagement, werden an gesellschaftliche Verantwortung herangeführt und leben ein geregeltes und von Respekt geprägtes Miteinander“, lobte Gerich.
Dekan Dr. Martin Mencke freute sich, dass das Stadtjugendpfarramt auch in den 50 Jahren, die es besteht, immer jung geblieben ist. Wie das gehen kann? „Das Stadtjugendpfarramt hat sich immer verändert. Nie ist es gleich geblieben. Es wurden immer neue Impulse wahrgenommen und aufgenommen“, so Mencke. Kirche tue gut daran, wenn sie die Ohren weit aufsperre. Denn Stadtjugendpfarrämter seien immer auch Indikatoren der Zeit, Ansage der Zukunft. „Wir als Dekanat sind dankbar für das Viele, das hier passiert und möglich ist. Das Stajupfa ist bei weitem der größte Einzelposten bei uns im Haushalt. Immer wieder sind wir unterwegs, um diese Arbeit anzupassen, zu sichern, auszubauen.“
Der Propst von Süd-Nassau, Oliver Albrecht, erlebt das Wiesbadener Stadtjugendpfarramt ganz im Sinne Dietrich Bonhoeffers als „Kirche für andere“: „Es ist hörbar und sichtbar in der Stadt, seit 50 Jahren jetzt, mal mit leisen, mal mit lauten Tönen – im Namen der Kirchenleitung gratuliere ich von Herzen und bin froh, dass ich am heutigen Samstag mitfeiern darf“. Seinbesonderer Dank gilt den ehren- und hauptamtlich Mitarbeitenden. „Nicht nur wie viel sie leisten, sondern auch wie begeisternd sie das tun: das verdient unseren Respekt“, so Albrecht
Für Jugendpfarrerin Astrid Stephan ist das „Stajupfa“ ein wichtiger Ort, an dem Jugendliche ihre eigenen kreativen und manchmal auch ein wenig verrückten Ideen in der Evangelischen Kirche verwirklichen können. „Das Stajupfa ist ein offenes Haus vor allem für Jugendliche, in dem sie viele Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung finden können.“
Zu den Aktivitäten des Stadtjugendpfarramtes gehört die Organisation von Gottesdiensten, Ferienfreizeiten, Kulturveranstaltungen und anderen Events für junge Menschen im Raum Wiesbaden und Umgebung. In Zusammenarbeit mit dem Gemeindepädagogischen Dienst werden Großveranstaltungen wie das jährliche Konfi-Camp, ein großer Konfirmandengottesdienst und ein Dekanatskinderkirchentag organisiert. Seit dem Jahr 2011 gibt es auch noch eine Jugendkirche am Ort der Oranier-Gedächtnis-Kirche in Biebrich. Die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden des Stadtjugendpfarramtes unterstützen Kirchengemeinden in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und vertreten außerdem die Interessen von ihnen in den kirchlichen und städtischen Gremien. Der Gospelchor „Xang“, der sich einst als Projektchor im Stadtjugendpfarramt gegründet hat, ist längst über Wiesbadens Stadtgrenzen hinaus bekannt. Zu den Vorführungen des Schwarzlichttheaters kommen hunderte Besucher.
Astrid Stephan ist seit knapp sechs Jahren Jugendpfarrerin in Wiesbaden. Sie ist in der hessischen Landeshauptstadt aufgewachsen und hat als Jugendliche im Bonhoefferhaus mitgearbeitet. „Ich habe selbst erlebt, wie wichtig es ist, wenn jemand einen Blick für Jugendliche hat, die vielleicht jemanden zum Reden suchen“, sagt sie. Da es immer mehr säkulare und kommerzielle Angebote für Jugendliche gibt sowie eine Ausdehnung der Schulzeiten durch die Ganztagsschulen ist es für Stephan umso wichtiger, dass es weiterhin auch gute Angebote der Freizeitgestaltung von der Evangelischen Kirche gebe. „Im Hinblick auf wachsende gesellschaftliche Herausforderungen, etwa durch die große Zahl an Flüchtlingen, müssen wir weiterhin aus christlicher Glaubensverantwortung heraus mit anderen Jugendverbänden und Jugendlichen aus anderen Religionsgemeinschaften christlichen Glauben im Sinne Dietrich Bonhoeffers leben: „Verantwortung übernehmen in und für die Welt – Kirche für andere sein.“
Das Bonhoefferhaus und sein Namensgeber Dietrich Bonhoeffer:
Nach mehreren Umbauten verfügt das Bonhoefferhaus heute neben einem großen Saal, einem Konferenzraum, einer Diskothek, einem Bandproberaum und Büroräumen auch über ein rund 3.500 Quadratmeter großes Außengelände mit reichlich Natur und einem Teich.
Neben Jugendpfarrerin Astrid Stephan sind zwei Dekanatsjugendreferenten sowie drei weitere Pädagogen, ein Hausmeister und eine Sekretärin im Stadtjugendpfarramt tätig. Darüber hinaus besteht das Team aus einem festen Kreis ehrenamtlicher Mitarbeiter, Praktikanten und Minijobbern.
Seinem Namensgeber Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) fühlen sich alle Mitarbeitenden im Stadtjugendpfarramt bis heute verpflichtet. Mutig ist der evangelische Theologe gegen jede Fremdbestimmung des christlichen Glaubens und gegen die antisemitische Ideologie der Nazis eingetreten. Seine christliche Überzeugung hat er gelebt und sich im Widerstand trotz des enormen persönlichen Risikos engagiert. Seine der Welt zugewandte und trotz aller Umstände frohe Lebenseinstellung ist den Mitarbeitenden im Stadtjugendpfarramt ein Vorbild. Sein Einsatz gegen Rassismus und Antijudaismus ist heute mehr denn je auch für sie Ansporn und Vorbild, gegen jede Form von Diskriminierung, vor allem aber Fremdenfeindlichkeit und Rassismus einzutreten. Zu den wesentlichen Leitsätzen im Stadtjugendpfarramt gehört deswegen, dass alle Menschen gleich welcher Konfession, Religion oder Weltanschauung willkommen sind.